Bericht über unsere Teilnahme an der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag des Massakers in Maillé am 25. August 1944

Wir waren Teil einer zwölfköpfigen Delegation aus Deutschland, die sich aus Mitgliedern der Organisation Gegen Vergessen – für Demokratie und Pax Christi zusammensetzte. Als Mitglieder von Gegen Vergessen – für Demokratie waren wir vom Delegationsleiter (Vorstandsmitglied Prof. Dr. Friedhelm Boll, Bonn) gebeten worden, bei der diesjährigen Ausgestaltung unseres Besuchs in Maillé auch die DFG Hamburg Cluny zu vertreten, was wir nach Autorisierung durch den Cluny-Vorstand gern übernommen haben. Die Einladung der Delegation durch den Bürgermeister der Gemeinde Maillé, Bernard Eliaume, bezog sich zum 75. Jahrestag nicht nur auf die Teilnahme an der Gedächtnisfeier am Sonntag, dem 25. August, sondern erstreckte sich auf den nächsten Tag. Am Montag, 26. August, fand ein ganztätiger „Studientag“ statt, an dem neben dem Besuch der dortigen Gedenkstätte, die informativ und eindrucksvoll die Geschichte des Massakers dokumentiert, zum ersten Mal vor- und nachmittags Gespräche mit „Zeitzeugen“ des Massakers stattfinden sollten. Zum ersten Mal gab es, ganz offiziell, Gespräche zwischen Zeitzeugen des Massakers mit uns Deutschen. Es waren bewegende, von Tränen, Lächeln und Dankbarkeit begleitete Begegnungen, emotional herausfordernd für beide Seiten.

Am 25. August 2019 trafen wir in Maillé um 9 Uhr zur Messe in der aus dem 12. Jahrhundert stammenden Kirche ein. Der Zugang zu dem kleinen Ort war für Fahrzeuge schon am Ortseingang gesperrt, so dass wir zusammen mit zahlreichen anderen Menschen, Alten, Jüngeren, auch Kindern, wie in einem sich formierenden Pilgerzug zu der im Ortsmittelpunkt liegenden Kirche wanderten. Der kleine Kirchenraum fasste die zahllose Menge nicht. Offenbar wurde der Gottesdienst auf den Vorplatz übertragen. Wir durften ganz vorn, unter den Ehrengästen, z. B. aus Oradour sur Glane Platz nehmen. Die würdige, schlichte Veranstaltung mit direkter Beteiligung der Gemeinde schloss mit dem Sakrament des Abendmahls.

Anschließend bewegte sich der Zug der Gottesdienstbesucher zum Friedhof, begleitet von vielen Fahnen und Transparenten, die eine Ahnung von der breiten Beteiligung aus verschiedenen Regionen Frankreichs, von Organisationen und Institutionen gaben. Auf der Begräbnisstätte der Ermordeten ist ein großer Grabstein errichtet, der Platz bietet, in alphabetischer Reihenfolge die Namen und das Alter aller Opfer aufzureihen, 124 Personen, darunter 43 Kinder. Das Jüngste war drei Monate alt. In einem sorgfältig vorbereiteten Ritual wurden alle Namen mit Altersangabe verlesen und danach die Delegationen aufgerufen, die an der Grabstätte Blumen niederlegten, darunter auch ein Vertreter der deutschen Botschaft in Paris. Neben Gegen Vergessen – für Demokratie und Pax Christi durften auch wir für Cluny Hamburg unser Blumengesteck zum Grabstein tragen. Auf unseren Schleifenenden standen außer dem Namen unserer Gesellschaft auf Französisch und Deutsch die Worte „Remords éternels“ und „Ewige Scham“. Am nächsten Tag sprach uns eine Gesprächspartnerin darauf an, wie sehr sie unsere Geste, unter dem Gedenkstein Blumen niederzulegen, gerührt habe. Im Laufe der zwei folgenden Tage hatten wir immer wieder Gelegenheit, Cluny vorzustellen, dabei auf unser Gründungsdatum, schon drei Jahre nach dem Massaker, hinzuweisen und Fragen zu beantworten, wie Cluny zu seinem Namen gekommen ist.

Barbara und Michael Vogel bei der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag des Massakers in Maillé am 25. August 1944

Barbara und Michael Vogel bei der Gedenkfeier zum 75. Jahrestag des Massakers in Maillé

Im Garten des Rathauses schloss sich der politische Teil der Gedenkveranstaltung an. Zwei Reden würdigten das Leid der Opfer und der Hinterbliebenen, die ewige Trauer und die Verpflichtung für ein friedliches Miteinander der Völker, insbesondere auch der Nachbarn Frankreich und Deutschland: der Bürgermeister von Maillé und eine Staatsministerin aus der Hauptstadt. In beiden Reden wurden wir als Delegation aus Deutschland besonders begrüßt.

Den Abschluss der Feierlichkeiten bildete ein déjeuner, bei dem wiederum der gastgebende Bürgermeister sprach als auch auch der Bürgermeister von Oradour, der mit einer großen Personengruppe teilnahm. Da das déjeuner sich über drei Stunden erstreckte, bestand für uns gute Gelegenheit für Gespräche mit den französischen Teilnehmern. Auch mehrere unserer Zeitzeugen konnten wir dabei schon kennen lernen, was einen guten Auftakt für die Zeitzeugengespräche setzte.

Am Montag früh folgte dann die „Premiere“ innerhalb der jährlichen Gedenkfeierlichkeiten zum Massaker des 25. August, unsere Gespräche mit Zeitzeugen. Diese hatten sich auf eine öffentlich ausgeschriebene Einladung des Bürgermeisters zu einer Begegnung mit der deutschen Delegation bereitgefunden. Zur Überraschung des Bürgermeisters war die Resonanz groß. Auch die regionale Presse reagierte positiv. Sie berichtete ausführlich über die Initiative zu den französisch-deutschen Gesprächen und befragte uns Teilnehmer nach unseren Erwartungen und Eindrücken. Da sich so viele Zeitzeugen gemeldet hatten, etwa zwanzig Personen, mussten wir uns nun in Gruppen aufteilen, um genug Zeit für die Einzelnen zu haben. Eine Premiere war es insofern, als in den Jahren zuvor nie derartige Treffen erwogen worden waren. Noch in den 1990er Jahren war es vorgekommen, dass deutsche Besucher, z. B. deutsche Autokennzeichen, in Maillé als unerwünscht behandelt worden waren. Der kleine Ort Maillé mit etwa 500 Einwohnern trug schwer an den grauenhaften Ereignissen des 25. August 1944 und fühlte sich allein gelassen mit seiner leidvollen Geschichte über sechs Jahrzehnte hinweg. Erst im Jahre 2008 nahm ein französischer Staatspräsident (es war Nicolas Sarkozy) an der Gedenkfeier teil. Die Erstmaligkeit der am Ort des Massakers geplanten deutsch-französischen Begegnungen machte auch uns unsicher und aufgeregt, zumal die Kenntnisse, die wir uns zur Vorbereitung unserer Reise angeeignet hatten, von einem Ausmaß an Barbarei zeugen, ob aus Rache-Akt verübt oder nicht, dass jeder Versuch, das Geschehen in eine verstehbare Handlung zu übersetzen, scheitert.

Am Morgen des 25. Augusts machten sich Angehörige einer Einheit der Waffen-SS auf den Weg und ermordeten in den Gehöften am Wegesrand und dann im Kern des Ortes systematisch alle Menschen, die sie in Häusern und Gärten, auf den Feldern und am Bahndamm der Strecke Paris – Bordeaux vorfanden. Ähnlich töteten sie auch alle Tiere auf der Weide und in den Ställen. Dort wo die Einheit durchzog, überlebten nur wenige, die ein Versteck gefunden hatten, das von den Mordenden übersehen wurde oder – wie der heutige Vorsitzende der Vereinigung Pour le Souvenir de Maillé, der heute 85jährige Serge Martin, der damals als Zehnjähriger zufällig bei den Großeltern in einem anderen Dorf weilte (im August waren Schulferien) und als einziges Familienmitglied übrigblieb. Nach dem Morden an den Lebewesen zerstörten Brandbomben und Granaten die Häuser und Ställe. Mittags war alles zu Ende. 124 Menschen, davon 43 Kinder waren bestialisch umgebracht worden.

Monsieur Martin, erhielt im vorigen Jahr das Bundesverdienstkreuz. Damit wurde sein bewundernswertes Eintreten und Wirken für deutsch-französische Begegnungen gewürdigt. Seit zehn Jahren hat er den jährlichen Besuch einer von der Vereinigung Alpha (Wuppertal) betreuten Jugendgruppe begleitet und sie regelmäßig durch die Ausstellung in der Gedenkstätte geführt. Diese Begegnungen gaben der Ortsöffentlichkeit ein Beispiel für die Chancen der deutsch-französischen Zusammenarbeit, machten Mut zu einem Treffen deutscher Gäste mit den Zeitzeugen Maillés und ebneten den Weg zu unseren diesjährigen Gesprächen mit den Zeitzeugen.

Unsere Kenntnis der Mordaktionen und ihrer unerbittlichen Reihenfolge verdanken wir wesentlich den akribischen Rekonstruktionen der Vorgänge durch den geistlichen Seelsorger der Gemeinde Maillé Abbé André Payon, der sogleich (teilweise unter den Augen der deutschen Besatzung) mit seinen Gängen durch das zerstörte Maillé begann und an der Bergung und Identifikation der durch die verheerenden Brände oft stark verstümmelten Leichen beteiligt war. Abbé Payon verfasste eine Bestandsaufnahme, 1945 erstmalig erschienen, bewusst sachlich, bewusst Emotionen, zumeist, zurückhaltend, wodurch das Geschehen umso unfassbarer wird. Im Jahre 2008 erschien die Broschüre erstmals in deutscher Übersetzung. Unfassbar als einzelnes Geschehen, erkennt man in den barbarischen Vorgängen in Maillé doch eine weitere Dimension, weil es historisch eingeordnet werden muss in eine Reihe von ähnlich durchgeführten Massakern in anderen Orten in Frankreich und in Italien, um gar nicht von dem Geschehen auf den Kriegsschauplätzen in Osteuropa zu reden, für die schon lange der Begriff „Vernichtungskrieg“ verwendet wird.

Nach Kriegsende gab es Hilfsaktionen. Insbesondere das Ehepaar Hale aus den USA engagierte sich 1948/49 für die zu Waisen gewordenen Kinder. Sie übernahmen deren Patenschaft. Aber dann schlief bald das Interesse an den schrecklichen Tag ein. In Maillé wurden die Häuser neu erbaut. An der Stelle, an der in dem Café des Orts mehrere Menschen getötet wurden, steht heute die Gedenkstätte. In Bordeaux fanden in den Jahren 1952/53 Gerichtsprozesse statt, die Verbrechen in Oradour und Maillé betreffend. Sie endeten für Maillé ergebnislos, weil sie in Abwesenheit der Angeklagten stattfanden, indem aus der Bundesrepublik niemand überstellt wurde. Mindestens ein Täter war in Bordeaux namhaft gemacht und zum Tode verurteilt worden: Gustav Schlüter. Er soll 1965 in Hamburg (!!!) gestorben sein. Eigene juristische Ermittlungen in der Bundesrepublik unterblieben. Ein ernsthafter Versuch in Deutschland, die Verbrechen aufzuklären, datiert aus dem Jahre 2003, als von der NRW-Zentralstelle zur Aufklärung der Nationalsozialistischen Massenverbrechen Ermittlungen aufgenommen wurden; 2008 recherchierte ein Staatsanwalt eine Woche lang in Maillé und in Tours. Sechzig Jahre nach dem Geschehen waren die Aussichten, noch lebende Tatverdächtige ausfindig zu machen, allerdings gering. Dennoch wurden die Ermittlungen erst 2017 eingestellt.

Die Fragen, die wir in unserer Delegation über die Gründe des langen Schweigens uns stellten, sind nicht leicht befriedigend zu beantworten. Sie sind überhaupt nicht voll überzeugend zu beantworten. Ein wesentlicher Faktor ist gewiss die Gleichzeitigkeit sehr verschiedener Ereignisse: Während des Mordens in Maillé, am 25. August 1944, kapitulierte in Paris der deutsche Stadtkommandant und am 26. August zog General de Gaulle über die Champs Elysées in Paris ein. Der 25. August, die Befreiung von Paris, ist in der französischen Erinnerungskultur mit höchster Begeisterung und Stolz besetzt. Als Symbol für deutsche Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung, steht die Stadt Oradour sur Glane, im Juni 1944 fast vollständig zerstört. Dort sind die Ruinen als Mahnung an die Verbrechen erhalten geblieben. Es gab kaum Überlebende, die traumatische Erinnerungen bis in die Gegenwart tragen können.

Das Bewusstsein, dass das Kriegsverbrechen in Maillé ungesühnt geblieben ist, quälte uns bei der Verabredung mit den Zeitzeugen, die das Massaker überlebt hatten oder die der nach dem Massaker geborenen Generation, angehören. Die Gespräche lenkten unsere Aufmerksamkeit dann verstärkt auf eine andere traumatische Erfahrung, die alle Zeitzeugen belastete. Es ist das sechs Jahrzehnte umfassende kollektive Vergessen des Geschehens in der Welt außerhalb Maillés, die Frage, warum sich niemand für das, was sich in Maillé am 25. August ereignet hatte, interessierte oder zu interessieren schien. Diese schwärende Wunde trug offensichtlich dazu bei, dass jetzt unsere Fragen nach ihren Erlebnissen und unsere Anteilnahme an ihrem Schicksal mit so großer Bereitwilligkeit angenommen wurden und manchmal Schleusen der Schilderung lange zurückgehaltener Erinnerungen zu öffnen schienen. Die Offenheit, die uns entgegengebracht wurde und die wir so dankbar aufnahmen, darf nicht außer Acht lassen, dass die Menschen, die sich zu einem Treffen mit Deutschen gemeldet hatten, zu denen gehören, die ihren Hass auf die Nachkommen der Täter überwunden haben. Manche, nicht alle, thematisierten ihre lange und bitter empfundenen Hassgefühle, ihre Unfähigkeit, mit Deutschen zu reden, meistens ohne zu erklären, warum sie heute anders denken.

Wegen des überraschend regen Interesses an dem Treffen von Zeitzeugen mit uns Gästen aus Deutschland mussten für die Gespräche Gruppen gebildet werden. Die eine Gruppe umfasste Frauen und Männer, die das Massaker als kleine Kinder – zwischen zwei und elf Jahre alt – überlebt haben, jedoch Eltern oder ein Elternteil und Geschwister verloren hatten. Zur anderen Gruppe zählte die „Generation der Kinder“, d. h. bald nach dem Krieg Geborene. Auch sie hatten oft Eltern oder ältere Geschwister durch das Massaker verloren. Beide Gruppen berichteten davon, wie es ihnen gelingen musste und wie schwer es war, sich „danach“, im Alltagsleben, in der zertrümmerten Welt ihres kleinen Ortes, zurecht zu finden. Mit der ersten Gruppe haben wir, uns ebenfalls aufteilend, jeweils in kleiner Runde gesprochen. Als wir, unsere Delegation, uns später über das Gehörte austauschten, erwies sich, dass bei aller Vielfalt der Gesprächsteilnehmer im Einzelnen, ihrer Temperamente und Lebenserfahrungen, übereinstimmend die Auswirkungen des entsetzlichen 25. August ihre Biographien und ihre Lebenseinstellung bis heute tief geprägt, manchmal aus der Bahn geworfen haben. Das Gespräch mit der „Generation der Kinder“ hatte einen etwas anderen Charakter, weil als Folge der knappen zur Verfügung stehenden Zeit nur zwei Personen von uns mit der gesamten acht Personen zählenden Gruppe zusammensaßen und außerdem der Leiter der Gedenkstätte dabei war. Die Voraussetzung für eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre war deshalb geringer. Es kam mehr zu einem Austausch über den angemessenen Umgang mit dem Kriegsverbrechen, mit seinen Opfern und den Nachgeborenen. Hin und wieder flackerten unter unseren Gesprächspartnern kleine Kontroversen auf, die Spannungen ahnen ließen: Meinungsverschiedenheiten, wie sie innerhalb eines Kreises engagierter Personen, die sich für die Bewahrung und Sicherung des Gedenkens an das Massaker am 25. August 1944 einsetzen, unausbleiblich sind. Für uns Gäste aus Deutschland bestätigte diese Gesprächsrunde vielleicht gerade deshalb die nachdrückliche deutsche Verpflichtung, Maillé als Ort der Erinnerung an ein schreckliches nationalsozialistisches Kriegsverbrechen zu unterstützen.

Die beiden Tage hatte bei uns allen zahlreiche Gefühle, der Scham, Trauer, Herzlichkeit und der Dankbarkeit, aufgewühlt, so dass eine Einladung des Bürgermeisters zum abschließenden Abendessen eine wunderbare Gelegenheit schuf, unsere Eindrücke zu sammeln, eine erste vorsichtige Bilanz zu ziehen und auf die Fortsetzung und Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu setzen. Nicht nur nebenbei genossen wir die französische Gastfreundschaft und Gastlichkeit.

Einer ehrenvollen Bitte des Bürgermeisters folgend trugen wir uns an diesem Abschiedsabend in das Goldene Buch Maillés ein. Das von uns ausgewählte Zitat aus einer Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier möchten wir als unsere besondere Verpflichtung als Deutsche verstanden wissen. Das Zitat steht in Steinmeiers Rede in dem kleinen italienischen Ort Fivizzano, die er am 25. August 2019 hielt dort, wo 75 Jahre zuvor ein Massaker der Waffen-SS unter der Bevölkerung gewütet hatte. Steinmeier hielt seine Rede in italienischer Sprache. Wir übersetzten sein Zitat hier in Maillé ins Französische. Auf Deutsch heißt es:

Unsere Verantwortung ist es, eine gemeinsame Erinnerungskultur zu schaffen und das Wissen in die nächsten Generationen weiterzugeben, für eine bessere Zukunft in einem geeinten Europa.

Barbara und Michael Vogel

Gedenkfeier zum 75. Jahrestag des Massakers in Maillé am 25. August 1944

 

 

 

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