Bericht über unsere Teilnahme an der Gedenkfeier zum 77. Jahrestag des Massakers in Maillé en Touraine am 25. August 1944.

Als wir uns von unseren Gastgebern in Maillé en Touraine im August 2019 nach den Gedenkveranstaltungen verabschiedeten, vereinbarten wir, dass unsere kleine deutsche Delegation im kommenden Jahr wiederkommen würde. Dann sollten auch die so bewegend und friedensstiftend begonnenen Gespräche mit den Zeitzeugen fortgesetzt werden. Die Corona-Pandemie ließ solche Treffen nicht zu. Aber in diesem Jahr konnten wir der Einladung des (in den Französischen Kommunalwahlen des Jahres 2020 wiedergewählten) Bürgermeisters folgen. Unsere Delegation war etwas kleiner; statt zwölf waren wir nur acht Teilnehmer, was jedoch nicht der Pandemie, sondern dem Streik bei der Deutschen Bahn geschuldet war. Wir weilten dort als Vertreter der Gesellschaft Gegen Vergessen – Für Demokratie und unserer Deutsch-Französischen Gesellschaft Cluny Hamburg.

In unserem Bericht vor zwei Jahren haben wir die Geschichte des Massakers in Maillé und die Absicht unserer Teilnahme an der Gedenkveranstaltung ausführlich beschrieben, so dass wir uns hier nicht wiederholen möchten (siehe den damaligen Bericht auf der Cluny-Homepage). Aber um weiterzugeben, welche Eindrücke wir diesmal und von Neuem gewonnen haben und dass uns mit Freundlichkeit und Herzlichkeit begegnet worden ist, möchten wir doch einige Sätze aufschreiben.

Wie vor zwei Jahren legten wir an dem hohen Gedenkstein auf dem Friedhof in Maillé, in den die Namen der 124 Ermordeten einschließlich ihrer Altersangabe eingraviert sind, ein Blumengebinde mit Schleifen für Cluny nieder – das Hygienekonzept schrieb vor, dass dafür nicht jeder selbst an den Gedenkstein herantrat. Anschließend gab es vor dem Maison du Souvenir de Maillé Gelegenheit zu Begrüßungen und Gesprächsaustausch, zum Beispiel auch mit Überlebenden, die wir vor zwei Jahren kennen gelernt hatten. Das große gemeinsame Mittagessen entfiel, wiederum mit Rücksicht auf die Infektionsgefahr, und nur in kleiner Runde lud der Bürgermeister zu einem Imbiss ein. Wir konnten dabei verabreden, wie am nächsten Tag die Zeitzeugengespräche würden ablaufen können. Es hatten sich zwölf Zeitzeugen, einige mit Familienmitgliedern, gemeldet, die gern mit den Deutschen sprechen wollten. Nur einige waren auch 2019 dabei gewesen. Michael und ich gehörten zu einer Vierergruppe, die mit Menschen sprach, die erstmalig gegenüber Deutschen von ihren Erlebnissen berichteten und auf unsere Fragen warteten. Die für die Kontakte zu deutschen Gesprächspartnern wichtigste Person der Jahre zuvor, deren Initiator und Motor auf französischer Seite, Serge Martin, ist 2020 gestorben.

Die Gespräche nahmen einen vollen Tag bis zum späten Nachmittag am 26. August in Anspruch. Wir hatten uns in zwei Gruppen aufgeteilt und hatten für jede Zeitzeugin – es waren ausschließlich Frauen – anderthalb Stunden Zeit für das Gespräch. Die Zeitzeuginnen waren im August 1944 zwischen zwei und achtzehn Jahre alt. Andere Familienangehörige waren in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre oder Anfang der 1950er Jahre geboren. Beide Kategorien von Gesprächspartnern berichteten von eigenen Erlebnissen und Erfahrungen mit dem Massaker und dessen Folgen für den Ort Maillé. Für uns wurde in diesen Gesprächen deutlich, dass die Erinnerungen an den mörderischen Tag des Massakers selbst nicht mehr im Mittelpunkt der Mitteilungsbereitschaft zu stehen scheinen, dass sie fast zur Vorgeschichte ihres Leids, ihres Entsetzens und ihrer Albträume über viele Jahrzehnte hinweg werden oder geworden sind. Statt von dem fortlaufenden Ablauf des schrecklichen Geschehens berichten die Zeitzeugen mehr von einzelnen Details, die sich ihrem Gedächtnis eingeschrieben haben. Im Vordergrund ihres Nachdenkens scheint das Schweigen der Außenstehenden, aber auch in der eigenen Familie zu stehen. Auch bei uns als Zuhörende und Fragende stoßen die Berichte über die brutalen Tötungen und Brandschatzungen offenbar nicht auf das vordringlichste Interesse: Sie sind bekannt, und wir waren bestrebt, nicht mit bohrend wirkenden Nachfragen die Situation eines Verhörs entstehen zu lassen. In einem Gespräch entstand bei uns der Eindruck, als ob anwesende Mitarbeiter aus dem Maison du Souvenir, die die Zeitzeugen schon oft interviewt und gehört hatten, darauf drängten, die Zeitzeugen sollten doch noch mehr und genauer von dieser oder jener Einzelheit berichten. Wir glauben, uns ‚richtig‘ verhalten zu haben, dass wir nicht auf solchen präzisen Zeitzeugenaussagen insistierten, sondern mit Anteilnahme all dem begegneten, was uns erzählt wurde. Unser Eindruck: Es geht heute in solchen Begegnungen nicht um Aufklärung, sondern um menschliche Annäherung. Besonders eindrucksvoll war für uns, wie eine 96jährige Zeitzeugin, die offensichtlich seit dem 25. August 1944 sich selbst mit dem Vorwurf belastet, für den Tod ihres Vaters Schuld auf sich geladen zu haben, jetzt nach dieser langen Zeit ihren Frieden mit sich und der Erinnerung gemacht hat. Der Vater war der erste Tote des Massakers; er hatte sich mit Vorahnungen, dass sich bei den deutschen Besatzern etwas vorbereite, vom Nachbarort aus auf die Suche nach seiner achtzehn Jahre alten Tochter gemacht. Durch eine andere Zeitzeugin, damals sieben Jahre alt, führten unsere Gespräche mitten in die Fragen, wie heute der Ort Maillé mit der Erinnerung an das Massaker umgehen soll. Ihr ältester Bruder war viele Jahre lang (in den 1980er Jahren?) Bürgermeister in dem Ort und aus für uns noch nicht ganz verständlichen Gründen hatte er in die Gedenkstätte Maison du Souvenir niemals einen Schritt getan.

Die zukünftigen Formen des Gedenkens und der Mahnung an die Nachlebenden zum Frieden standen dann auch im Vordergrund unseres Abschlussgesprächs mit dem Bürgermeister. Er hatte uns in einer Pause auf einen kleinen Ausflug an die Autobahn Aquitaine Richtung Bordeaux geführt, wo auf der Aire de Maillé neuerdings eine große Skulptur und eine viersprachige Gedenktafel an das Massaker vom 25. August 1944 erinnert. Unser Abschlussgespräch ging der Frage nach, wie wir das gemeinsame deutsch-französische Gedenken lebendig erhalten und für den Ausbau der deutsch-französischen Freundschaft nutzen können. Unsere Ideen, die nun weitergesponnen werden sollen, gingen in die Richtung, jemanden aus der inzwischen klein gewordenen Gruppe der Überlebenden nach Deutschland einzuladen, z. B. nach Hamburg zu Cluny. Wäre es nicht bedenkenswert, den jetzigen langjährigen Bürgermeister Maillés bei Cluny kennen zu lernen, um ihn anschaulich über französische Kommunalpolitik berichten zu lassen? Im Cluny-Kuratorium stand plötzlich der Gedanke im Raum, eine vielleicht einwöchige Reise in die Touraine zu organisieren. Es gibt dort neben dem Besuch der Gedenkstätte in Maillé (Ausstellung und ein sehr bewegender, informativer Film) viel Interessantes zu sehen: die Stadt Tours, das Château Chenonceau (durch das im Zweiten Weltkrieg die Demarkationslinie zwischen dem von Deutschland besetzten Frankreich und dem sog. France libre verlief), Chinon, die Abbaye royale de Fontevraud….

Barbara und Michael Vogel

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